„Vom rassistischen Normalzustand zum Nationalsozialistischen Untergrund“ ist eine Veranstaltungsreihe in Hamburg zu den Hintergründen, Abgründen und Beweggründen des NSU, des Prozesses in München und der gesellschaftlichen Strukturen, die diese – und andere – rassistische Morde erst möglich gemacht haben.
Im November 2011 wird der NSU zufällig nach einem missglückten Bankraub enttarnt. Die Reaktion von Politik, Öffentlichkeit, Presse und selbst weiten Teilen der Linken ist Fassungslosigkeit und völliges Erstaunen über die Entdeckung einer terroristischen Neonazi-Struktur und die Aufdeckung von mindestens zehn Morden und zwei Bombenanschlägen. In mehr als einem Jahrzehnt polizeilicher Ermittlungen und medialer Kommentierung wurde die Möglichkeit eines rassistischen Hintergrundes nie ernsthaft verfolgt. Im Gegenteil: In allen Fällen wurden die Taten in den Kontext von organisiertem Verbrechen und „Ausländerkriminalität“ gestellt, die Ermordeten diffamiert und die Angehörigen über Jahre bespitzelt, unter Druck gesetzt und durch immer neue Anschuldigungen schikaniert.
Dieses Misstrauen gegenüber den Opfern und ihren Familien ist Ausdruck rassistischer Denk- und Handlungsmuster innerhalb der Behörden, Institutionen und Medien und einer der Hauptgründe dafür, dass eine frühere Aufdeckung der Hintergründe und Zusammenhänge der Morde nicht stattgefunden hat Die wichtige und richtige Kritik an Akteur_innen wie Polizei, Geheimdiensten und Medien darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass rassistisches Denken in allen Schichten der Gesellschaft verankert ist. Die immer wieder geäußerte Überzeugung vieler Migrant_innen, es müsse sich um ein rassistisches Tatmotiv handeln, fand nicht nur bei der Polizei kein Gehör. Auch die Öffentlichkeit nahm kaum Notiz davon, als türkische Gemeinden und Angehörige der Ermordeten 2006 unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ in Kassel und Dortmund auf die Straße gingen. Die Ignoranz gegenüber dieser zutreffenden Einschätzung basierte auf der Verankerung rassistischer Ressentiments, Denk- und Handlungsmuster in allen gesellschaftlichen Schichten. Nur so ist zu erklären, dass ein kritisches Hinterfragen der von Behörden und Medien vorgebrachten Erklärungsversuche ausblieb und eine kritische Auseinandersetzung während der Mordserie nicht stattgefunden hat.
Auch die deutsche Linke, vermeintlich sensibilisiert für rassistische Strukturen und Taten, bildete da keine Ausnahme. Als deren Teil müssen wir feststellen, dass auch wir weder die offiziellen Erklärungen der Polizei und die Medienberichterstattung kritisch genug hinterfragten noch solidarisch aktiv wurden, als migrantische Communities ihre Angst und ihren Unmut öffentlich machten. Obwohl (institutioneller) Rassismus, strukturelle Gewalt, die Verharmlosung der rechten Szene und die Verquickung des Verfassungsschutzes mit rechten Strukturen zentrale Inhalte linker Politik waren und auch heute noch sind, hat uns das Ausmaß der Gewalt nach Bekanntwerden der Zusammenhänge sprach- und fassungslos gemacht. Bis heute blieben nennenswerte Reaktionen der Linken aus.
Mit unserer im September 2013 gestarteten Veranstaltungsreihe wollen wir einen Beitrag zur politischen Aufarbeitung der Geschehnisse und Hintergründe leisten und Gegenöffentlichkeit schaffen. Hinter- und Beweggründe des NSU und der involvierten staatlichen Behörden sollen beleuchtet und die Abgründe ausgelotet werden. Wir wollen den Gerichtsprozess in München im Auge behalten, vor allem aber den strukturellen und gesellschaftlichen Rassismus thematisieren, ohne den die Morde und Bombenanschläge so niemals denkbar gewesen wären. Darüber hinaus wollen wir versuchen, Anstöße für eine selbstkritische Reflexion unseres eigenen Versagens aufzugreifen.
Der bisherige Verlauf der Veranstaltungen hat anhand zahlreicher Schilderungen plastisch gezeigt, wie etwa das Schreddern von Akten, die Unwilligkeit zur Mitarbeit, die Aussageverweigerung von Beamt_innen, das Bezahlen von verdeckten Ermittler_innen und Neonazis, das Dulden von Neonazi-Netzwerken und deren Aktionen sowie das Schützen von Geheimdienststrukturen eine Aufklärung der Mord- und Bombenanschläge und ihrer Hintergründe be- und verhindern. Dabei handelt es sich nicht – wie oft behauptet – um Ermittlungspannen oder die Unfähigkeit einzelner Mitarbeiter_innen der ermittelnden Behörden, sondern um eine ideologisch begründete Tradition der Sicherheitsapparate, rechte Strukturen zu verharmlosen und gewaltsames Handeln von Neonazis auf sogenannte Einzeltäter_innen zu reduzieren.
Die Umdeutung von Übergriffen, Anschlägen und Morden durch Nazis in spontane Einzeltaten wird von zahlreichen unabhängigen Recherchen, aber auch durch Statistiken der Bundesregierung gestützt.
Trotz der Ankündigung, knapp 800 Tötungsdelikte und 1700 Anschläge und Übergriffe seit 1990 auf rechtsradikale Hintergründe untersuchen zu lassen, kämpfen bis heute zahllose Menschen, die Opfer von Nazigewalt wurden, um ihre Anerkennung. Darüber hinaus zeigt sich im systematischen Ausblenden von Rassismus als Tatmotiv, wie sehr gesellschaftlicher Rassismus in den Behörden und Sicherheitsapparaten strukturell verankert ist. Diese Wirkmächtigkeit rassistischer Denk- und Handlungsmuster verhinderte nicht nur eine zeitnahe Aufdeckung der Morde, sondern führt bis heute zu einer Verweigerung der Erkenntnis, dass Rassismus eine entscheidende Rolle für das behördliche Versagen in all den Jahren der Ermittlungen gespielt hat. Sie blockiert dadurch bis heute eine Aufklärung und Aufdeckung der Zusammenhänge.
Auch für den verletzenden und unwürdigen Umgang der ermittelnden Behörden mit den Familien und Angehörigen der Mordopfer war Rassismus eine wichtige Triebkraft.
So wurde beispielsweise auf einer Veranstaltung eindrücklich geschildert, wie die Frau eines Ermordeten mit einer erfundenen Affäre und sogar einem erfundenen Kind aus dieser angeblichen Beziehung konfrontiert wurde, um Aussagen gegen ihren Mann
zu erwirken. Diese als ermittlungstaktische Mittel erfundenen Geschichten wurden erst nach längerer Zeit aufgelöst, eine Entschuldigung der verantwortlichen Mitarbeiter_innen bei den Betroffenen gab es nie.
Bedrückend war auch, als Yunus Turgut, der Bruder des am 25. Februar 2004 in Rostock ermordeten Mehmet Turgut, schilderte, wie er und seine Familie in ihrem Dorf in Kurdistan erst von einem Journalisten von der Aufklärung der Morde erfahren haben. Ein
offizielles Schreiben der Behörden oder eine Entschuldigung für die zahlreichen Verdächtigungen oder Verhöre haben auch sie bis heute nicht bekommen.
Der Umgang mit den Opfern und deren Angehörigen seitens der Behörden und der Medien hat bei uns zu einer Beschäftigung mit Fragen von Gedenkkultur und Gedenkpolitik geführt. Ein respektloser und unwürdiger Umgang mit den Opfern spiegelt sich oft auch im Fehlen einer würdigen und angemessenen Gedenkkultur wider. So widmet beispielsweise die Hansestadt Rostock erst nach langwierigen Diskussionen und zahlreichen Aktionen antifaschistischer Gruppen am 25. Februar 2014 zum 10. Jahrestag der Ermordung Mehmet Turgut einen Gedenkort.
In Hamburg wurde im Oktober 2013 der Bezirksversammlung Altona ein Antrag vorgelegt, nach dem für Süleyman Taşköprü, der am 27. Juni 2001 im Laden seines Vaters in der Schützenstraße 39 in Hamburg Bahrenfeld vom NSU ermordetet wurde, ein Gedenkort geschaffen werden und ein Abschnitt der Straße Kohlen-twiete nach Süleyman Taşköprü benannt werden soll.
Die Umbenennung der Kohlentwiete wird der Umbenennung der Schützenstraße vermutlich deshalb vorgezogen, weil sich dort nur ein Anlieger, nämlich die Handelskette Fegro befindet. Allerdings scheint auch die Umbenennung dieser Verkehrsfläche schon wieder zur Disposition zur stehen.
Ein gutes Beispiel für mangelnde Gedenkkultur und einen fehlenden Gedenkort, aber auch für die Kontinuität von Nazianschlägen ist ein ehemaliges Flüchtlingsheim in der Hamburger Halskestrasse in Billwerder/ Moorfleet. Dort verübte in der Nacht vom 21. auf den 22. August 1980 ein Trio der neonazistischen „Deutschen Aktionsgruppen“ einen Brandanschlag auf das Gebäude, in dem 200 Menschen aus Vietnam, sogenannte Boat People, untergebracht waren. Die Nazis warfen Molow-towcocktails in das Zimmer, in dem der 22-jährige Ngoc Nguyen und der 18-jährige Anh Lan Do schliefen. Die beiden Flüchtlinge hatten keine Chance. Einer der beiden starb noch am Morgen nach dem Feuer, der andere erlag einige Tage später seinen schweren Verletzungen. Heute ist dieser Anschlag nahezu vergessen.
An dem Haus, das heute ein Hotel ist, erinnert nichts daran, dass hier zwei Menschen ermordet wurden. Dies wollen wir ändern, indem wir für Ngoc Nguyen und Anh Lan Do einen Gedenkort in Hamburg schaffen.
Wir wollen mit den für 2014 geplanten Veranstaltungen weiterhin versuchen, den Gerichtsprozess in München im Auge behalten, historische Kontinuitäten von Nazistrukturen und die Verstrickungen der Geheimdienste zu beleuchten, über mögliche Handlungsoptionen und Konsequenzen aus dem Geschehenen ins Gespräch kommen und Anstöße für eine selbstkritische Reflexion unserer eigenen Versäumnisse zu geben.